Bericht aus dem Tagblatt.ch

 

Kappadokien: Die Kamine, in denen die Feen wohnen

 

Kappadokien im Herzen der Türkei überrascht mit bizarren Felsformationen, unterirdischen Städten und dem Stellenwert von Taubenmist.

Cabir schüttelt den Kopf. Nein, er habe keine Ahnung gehabt. Warum auch. Als Bub war das einfach der schönste Spielplatz der Welt. Einer mit Höhlen und Gängen, mit Gruben und Schlupflöchern, einer, auf dem jeden Frühling die Aprikosen- und Mandelbäume blühten und ein Meer aus Tulpen spross.

Zwar wusste er wegen der Fresken von den beiden Kirchen, die sich im Felsen versteckten. Aber was genau sein Grossvater mit diesem Flecken Erde in den Dreissigerjahren gekauft hatte, davon hatte Cabir keine Ahnung, jahrzehntelang, und mit ihm die ganze Familie. Bis vor 16 Jahren. «Da war das Staunen gross», sagt Cabir und stellt den Gästen lächelnd winzige, bauchige Tassen mit Apfeltee auf den Tisch.

Staunen. Ein Gefühl, das einen bei einer Reise durch Kappadokien ständig begleitet. Über die Schönheit dieser ungewöhnlichen Landschaft, über das Märchenhafte der Felsformationen, der Feenkamine. Über den Antrieb der Menschen, sich in diesen Stein ihre Lebensräume zu schlagen, über die Geschichte dieses heute muslimischen Landes, mitunter wichtiges Zentrum des frühen Christentums.

Das Staunen über die Gastfreundschaft der Menschen, über ihr Handwerk, über frei weidende Kühe mitten im Dorf, über die Kartoffeln und Zitronen, die hier in riesigen Höhlen lagern, über Kaffeesatzlesen und über Taubendreck, der über Glück und Elend in Liebesgeschichten entschied. Und über das Rätsel ausgekratzter Augen.

Cabir ist heute pensioniert. Sein Alter mag er nicht nennen, ratet doch, sagt er, und fährt sich vor dem Foto rasch mit einem Kamm durchs graue Haar. Sein Arbeitsleben lang war er in Hotels beschäftigt, seit der Pensionierung ist er Hausmeister im Keşlik-Tal, wie schon sein Grossvater und Vater. Er war dabei, als 2002 die Archäologen und Kunsthistoriker kamen und erklärten, dass es sich bei dieser Anlage um eine Klosteranlage aus dem 6. und 7. Jahrhundert handle. Die Fresken in den Kirchen datierten die Experten auf das 13. und 14. Jahrhundert.

Auf einen Schlag wurden aus den Gruben Grabstätten und Taufbecken, aus den Höhlen Schlafräume, Refektorien und Küchen. Was für die spielenden Kinder noch Schlupflöcher waren, wurde zu Fluchtwegen, die mit riesigen Steinrädern – ähnlich Mühlsteinen – verschlossen werden konnten. Lebensräume, die sich die Menschen damals in den Stein gegraben hatten, zum Schutz vor Angreifern, vor Verfolgern, vor der Hitze.

Gut zu wissen

Die Anlage «Keşlik Monastery» auf Cabirs Land zählt heute zu den Geheimtipps Kappadokiens. Während andere Destinationen die vielen Besucher kaum schlucken können, kommen so wenige ins Keşlik-Tal, dass Cabir noch immer jedem Gast einen Tee kocht und das Gästebuch vorlegt.

Gut 2000 Besucher seien es wohl pro Jahr, sagt er. Die Touristenmagnete, nur ein paar Kilometer weiter, zählen drei Millionen Besucher. Auch heute noch, nach dem gescheiterten Putschversuch und dem Ausnahmezustand in der Türkei, behauptet Guide Özkan. Was sich aber verschoben habe, sei die Herkunft der Touristen. Was seither zahlenmässig an europäischen Touristen fehlt, hätten Gäste aus Indonesien, Malaysia oder China wettgemacht.

Ein Labyrinth unter der Erde

Einer dieser Magnete ist die unterirdische Stadt in Derinkuyu. Ein faszinierendes Labyrinth aus Gängen, Treppen, Lüftungsschächten und Wohnräumen, verteilt auf sieben Etagen, über 50 Meter tief im Boden. Die Gänge so eng, dass man nur in gebückter Haltung durchkommt. Eine Fluchtburg, die kein Angreifer, kein Plünderer einfach so einnehmen konnte.

Ein weiterer Anziehungspunkt ist der Göreme Nationalpark, das Höhlenkirchental, Weltkulturerbe der Unesco. In Tuffstein gehauene Klosteranlagen, in denen sich die Christen vor den Römern versteckten, bis ihr Glaube ab dem Jahr 313 toleriert wurde. Bis zu 60 Kirchen zählt man rund um den Ort Göreme, allesamt reich mit biblischen Szenen bemalt. Die meisten datieren zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert; frühere Fresken sind wegen des Bilderkrieges vernichtet worden.

Wer wie Guide Özkan weiss, wo sich die spannendsten Fresken im dunklen Gewölbe befinden, entdeckt im Kegel der Taschenlampe ganz aussergewöhnliche Darstellungen. So zum Beispiel in der Schlangenkirche die Gestalt des Onophiros; mit Bart und Brüsten, halb Mann, halb Frau. Özkan kann auch erklären, weshalb den meisten Gestalten die Augen fehlen; viele sind tief ausgekratzt, manche abgeplatzt. Zum einen seien es Pilger gewesen, die den abgekratzten Sand gegen eine Spende als Heilmittel nach Hause nahmen. «Und zum andern», Özkan zuckt entschuldigend mit den Schultern, «waren es Buben wie ich, die mit Steinen auf die Augen zielten, weil wir glaubten, dass im Blick das Böse wohne.»

Özkan kennt sie alle, jede Freske, jede Geschichte. Aufgewachsen im Tal, kennt er jeden Stein. Seine belächelte Ankündigung zu Beginn der Reise, er könne mühelos zehn Stunden am Stück reden, war nicht bloss dahingesagt. Ebenso wie seine Reaktion auf unsere Aufregung beim Anblick des ersten Tuffsteinkegels: «Ihr werdet sehen, hier gibt es sie überall.»

Er hat nicht übertrieben: Sie wachsen aus dem Boden, mal als Kegel, mal wie ein Bleistift, mal mit Hütchen wie eine Morchel. Von den Menschen ausgehöhlt und als Häuser gebraucht, steigen im Winter jeweils Rauchsäulen aus ihnen, was einen französischen Forscher dermassen aus der Fassung brachte, dass er die Formationen «Feenkamine» nannte.

Heute leben in den Höhlen nur noch selten Einheimische. Umso häufiger werden sie entweder als Höhlenhotels für die Touristen hergerichtet – oder als Stallungen, Werkstätten oder Lagerräume gebraucht. Kappadokien ist das Lebensmittellager der Türkei. Kartoffeln, Mandarinen, Granatäpfel und Orangen werden hier gelagert, und die Zitronen, eine Spezialität. Sie liegen fünf bis sechs Monate im kühlen Dunkel, bis sie besonders saftig sind. «Schlafende Zitronen» nennt man sie.

Wenn man durch die Landschaft fährt, durch Dörfer, wo die Teppiche zum Trocknen in der Sonne hängen und sich Gewölle aus Kabeln über die Strassen ziehen, wo die Männer auf dem Dorfplatz sitzen und streunende Hunde am Strassenrand trotten, wenn man so fährt, dann fallen einem viele kleine Löcher in den Felswänden auf, umrandet mit weisser Kalkfarbe. Es sind Taubenschläge.

«Taubenmist war wertvoller als Gold», sagt Özkan und lacht ob der erstaunten Gesichter. «Wer heiraten wollte, wurde vom Brautvater bis vor 30 Jahren noch gefragt, wie viele Taubenschläge er besitze.» Denn erst das Ammoniak im Taubenmist machte den vulkanischen Boden fruchtbar.